Ein verabschiedeter Traum wird wahr: Vater und Söhne schaffen es auf Gipfel

Der Paderborner Philipp Wibbing wollte mit seinen Söhnen Berge besteigen. Aufgrund der Behinderung des Jüngsten sei das unmöglich, denkt er. Seine Freunde sehen das jedoch anders.

von Julia Lichtnecker, Neue Westfälische vom 30.12.2021: Ein verabschiedeter Traum wird wahr: Vater und Söhne schaffen es auf Gipfel | nw.de (mit freundlicher Genehmigung der Neue Westfälische )

Paderborn. Es sollte um seinen Sohn Julian gehen, um das Leben als Elternteil eines schwerst-mehrfach-behinderten Kindes und auch um die Gründung eines besonderen Pflegedienstes, von denen es nur sehr wenige gibt. Über all diese Dinge sprach Philipp Wibbing in der zweiten Episode des Podcasts „Der Begleiter“, dem Audioformat des Ambulanten Kinder- und Jugendhospizdienst Paderborn-Höxter. Dass sich nur wenige Monate später aufgrund des aufgezeichneten Gesprächs ein Traum erfüllen würde, damit hatte Wibbing nicht gerechnet.

Doch von Anfang an: Im Oktober 2013 sind Philipp Wibbing und seine Frau Kathrin zu Gast auf einer Hochzeit, etwa zehn Wochen vor dem errechneten Geburtstermin. In der Nacht platzt die Fruchtblase. Noch in der Nacht kommt Julian mit einem Not-Kaiserschnitt als zweiter Sohn der Familie zur Welt. Schnell ist klar: Julian, der sich kaum bewegt und nicht atmet, muss auf die Intensivstation. Dort bleibt er zehn Wochen, bis er im März wird er mit einem Blaulicht-Transport nach Paderborn verlegt wird.

Zu dem Zeitpunkt ist schon klar, dass Julian intensive Betreuung braucht. Zuhause bauen die Wibbings eine kleine Intensivstation nach, damit Julian nach Hause kann. Ihr Sohn muss rund um die Uhr professionell versorgt werden, an jedem Tag der Woche. Ein Umfang, den kaum ein Pflegedienst abdecken kann.

Mit eigenen Erfahrungen Pflegedienst gegründet

„Aus dem Schmerz heraus“, so erzählt Wibbing, habe er mit seiner Frau Anfang 2015 dann Team David gegründet. Hinter dem Namen verbirgt sich ein Pflegedienst, der sich auf die Intensivpflege von Kindern spezialisiert hat. Inzwischen habe Team David elf Kinder in ganz OWL in der Versorgung, die von insgesamt 37 Mitarbeitern betreut werden. Der Bedarf an solchen Angeboten sei allerdings weitaus höher.

In der Podcast-Episode, die dann Anfang Mai erscheint, berichtet der Vater über all das. Und erwähnt auch, dass er sich von einigen Dingen innerlich verabschieden musste, die er sich für sein Leben vorgestellt hatte. Eine dieser Sachen sei eine alpine Bergbesteigung mit seinen Kindern. Und dabei das Bild, wie er mit seinen zwei Söhnen am Gipfelkreuz steht. „Das habe ich selbst auch mit meinem Vater gemacht“, sagt Wibbing.

Als ein Freund des 45-Jährigen kurz darauf den Podcast hört, steht für ihn fest: Das bekommen wir hin. Über Monate plant eine Gruppe von Freunden und Bekannten den Ausflug, der eine Bergbesteigung möglich machen soll. Auch seine Frau Kathrin ist eingeweiht und unterstützt das Vorhaben. „Für den Aufstieg brauchten wir nämlich einen Gelände-Buggy, der erst noch besorgt werden musste“, sagt Wibbing. Denn auch wenn Julian doch einiges könne – eigenständig Laufen funktioniert nicht.

Freunde wollen dem Vater einen Traum erfüllen

Am 10. Oktober ist es dann so weit. Es ist Sonntag, die Sonne strahlt vom Himmel. Wibbing wird zuhause von sechs Freunden überrascht. Wohin es gehen soll, weiß er nicht. Julian und sein zwölfjähriger Bruder Bjarne sollen aber mitkommen. Als die Gruppe in Willingen ankommt, ahnt der zweifache Vater noch nichts. „Erst, als mein Kumpel sagte: ‚Es gab doch mal einen Podcast…‘, wusste ich, was das werden soll.“

Auch, wenn der 837 Meter hohe Ettelsberg in Willingen nicht einem alpinen, schneebedeckten Gipfel gleichkommt: „Ich war beeindruckt von dem Aufwand, den sich meine Freunde gemacht haben. Und spätestens nach den ersten 400 Metern wurde es dann auch schweißtreibend“, sagt Wibbing und lacht. Der Ettelsberg sei also doch mehr Berg, als er noch unten gedacht hatte.

Nach anderthalb Stunden und abwechselndem Schieben des Buggys kommt die Gruppe oben an. „Als ich den Wasserspeicher oben gesehen habe, wurde mir klar: Wir sind jetzt oben. Und dann habe ich entdeckt, dass es sogar ein Gipfelkreuz gibt.“

„Alle waren einen Moment still“

Das Erreichen des Kreuzes ist ein besonderer Moment. „Alle waren ergriffen und einen Moment still“, erinnert sich Wibbing. „Ich habe Julian dann aus dem Wagen genommen.“ Die letzten paar Meter ist der Achtjährige dann mit Unterstützung zum Gipfelkreuz gelaufen. „Dort angekommen, haben beide Söhne ihren Kopf angelehnt und ich habe gemerkt, dass beide emotional ergriffen waren.“

Und auch für Wibbing erfüllt sich in diesem Moment ein Traum, wenn auch anders als vorgestellt. „Die Bergbesteigung war für mich das zentrale Bild von dem, was nicht geht. Da oben zu stehen, das ist das absolute Gegenbild dazu. Es geht also doch – in der Gemeinschaft, mit Unterstützung von anderen.“

Seinen Freunden ist der Paderborner „total dankbar“, dass sie ihm eine Tour bis zum Gipfelkreuz ermöglicht haben. „Das hat zwei Aspekte für mich: Zum einen haben sie das mitbekommen und dann von sich aus Zeit und Aufwand investiert, um mir einen Traum zu ermöglichen“, sagt Wibbing.

Zum anderen sei ein so guter Freundes- und Bekanntenkreis nicht selbstverständlich. „Viele Familien mit lebensverkürzt erkrankten Kindern haben nur wenige Kontakte, weil sie stark eingespannt sind oder sich schämen.“ Das treffe auf die Wibbings nicht zu: „Unsere Freunde sind trotz unseres Schicksalsschlags weiter für uns da – und auch Julian ist ein ganz normaler Teil der Gruppe.“

Julians Freundin Holly

Seit ungefähr einem halben Jahr, gibt es einen menschlichen Bewegungsmelder, wenn wir die Einfahrt zu unserem Haus entlang gehen oder fahren. Unsere Nachbarin Holly (2 Jahre) steht öfters am Gartenzaun, schaut zu uns herüber und ruft lautstark „Hallo“. Anfangs war es eher ein „Hao“ – dann ein „Hallo“ und irgendwann wurde es ein fragendes „Juja?“. Wir und auch die Eltern der kleinen Holly konnten erst nichts damit anfangen. Doch irgendwann dämmerte es uns – Holly wollte wissen, wo Julian ist.

Den Sommer über gab es dann kein Halten mehr. Sie kam ein paar Mal zu uns rüber (natürlich in Begleitung ihrer Eltern), um Julian zu besuchen. Das Interesse ist natürlich nicht so langanhaltend, so dass sie ein paar Mal in Julians Zimmer rein, wieder raus, wieder rein. Wie das so ist mit 2. 😉 Aber dennoch echt lustig.

Dann wurde natürlich auch Julians Spielzeug inspiziert. Das hatte zur Folge, dass Julian sich jedes Mal als erstes auf seinen Lieblingsspielzeugwürfel wirft, wenn ein kleineres Kind sein Zimmer betritt. Zwischendurch war mal der kleine Sohn einer Pflegekraft dabei und auch da wurde der Würfel vehement verteidigt. Ich fand die Reaktion von Julian toll. Das zeigt ja wieder deutlich, dass er sehr viel versteht und umsetzt (und ganz nebenbei – mein Lieblingsspielzeug Handy gebe ich ja auch ungerne ab).

Den Sommer über konnten Julian und Holly dann zusammen draußen spielen. Holly hat Julian einen kleinen Ball auf seinen Rollstuhl gelegt und Julian hat ihn herunter geschossen. Das ging ein paar Mal so. Ein besonderes Highlight war als Holly Julian die Einfahrt entlang geschoben hat. Soooo niedlich. Sie war auch sehr stolz und Julian begeistert. Und ganz verzaubert war ich als sie einmal mit gefalteten Händen vor ihm stand und ihn anhimmelte mit „Mein Jujia“. Sooooooooooo süß.

Holly ist natürlich am Samstag beim 5. Geburtstag von Julian der Ehrengast.

Zu Besuch beim ambulanten DKHV

Gestern war ich beim ambulanten Kinder- und Jugendhospizdienst eingeladen. Dieser Verein kümmert sich um Familien mit Kindern, die lebensverkürzend erkrankt sind. Wir gehören als Familie ebenfalls dazu. Der Verein bietet zum einen verschiedene Veranstaltungen für die Familien, die erkrankten Kinder und vor allem auch die gesunden Geschwisterkinder an. Zum anderen engagieren sich eine Menge Ehrenamtliche; sie fahren zu den Familien nach Hause und spielen z.B. mit den kranken und/ oder gesunden Kindern, um die Familien zu entlasten. Das ist wirklich eine tolle Arbeit.

Die Ehrenamtlichen werden in einem sehr liebevoll gemachten Kurs auf die Arbeit in den Familien vorbereitet. Gestern ging es dann darum, einen Einblick in den Alltag der betroffenen Familien zu bekommen. Dafür sind eine weitere Mutter und ich dort gewesen. Insgesamt um die 10 Ehrenamtliche haben gespannt unseren Geschichten gelauscht. Es ist immer wieder seltsam, so im Nachhinein zu erzählen, was in den letzten Jahren so passiert ist. Und vor allem ist es eine Herausforderung, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Gar nicht so einfach nach so einer langen Zeit mit so so vielen kleinen und großen Geschichten, die wir durch Julian schon erlebt haben.

Gestartet sind wir mit der Geschichte von Emily Pearl Kingsley, die sehr treffend formuliert, wie es ist ein behindertes Kind groß zu ziehen: Willkommen in Holland.

Die andere Mutter und ich waren uns aber schnell einig, dass wir eher die Karibik gebucht hatten und in Alaska gelandet waren. Einfach weil die Abweichung unserer Wünsche und Pläne vor der Geburt so gravierend abweichend von dem war, was uns mit der Geburt unserer Kinder erwartete. Dennoch ist die Analogie wirklich sehr treffend. Und die Kunst ist es, mit der Umgebung in Alaska klar zu kommen.

Zum Einstieg in meinen Vortrag habe ich meinen Blick auf Normalität vorgelesen: Normalität – was ist das?. Nach wie vor sehr aktuell. 😉 Und anschließend den Start von Julian ins Leben: Tag 1212, die erste turbulente Zeit zu Hause und schließlich die Gründung von Team DAVID. Dabei ist mir wieder aufgefallen, dass ich mal wieder häufiger im Blog schreiben sollte. Es gibt so unendlich viele Geschichten, die doch leicht in Vergessenheit geraten – einfach, weil es so viele gibt. Mittlerweile sind die Geschichten zum Glück weniger dramatisch – aber deshalb nicht minder erinnerungswürdig. Ich gelobe also Besserung.

Interessant war besonders, wie unterschiedlich die Geschichte der anderen Mutter und unsere ist und auch was wir damit gemacht haben. Und dennoch sind wir uns in vielen Dingen immer wieder einig. Zum Beispiel, dass die Bürokratie in Deutschland immer wieder sehr zermürbend sein kann, dass es oft langwierig ist, wenn es um Genehmigungen für die unterschiedlichsten Dinge geht, dass die Familien mit diesem ganzen Chaos doch oft alleine gelassen werden, dass die Erkrankung des Kindes fast das geringste Problem ist und dass es echt ein Mammutaufgabe ist alles unter einen Hut zu bekommen – die Herausforderungen des „normalen“ Alltags haben wir schließlich ebenso.

Besonders herausfordernd ist, dass wir nicht „weg können“. Wir sind in Alaska gefangen und haben keine Chance dem zu entkommen. Wir können Decken und Öfen besorgen und ein warmes Haus in Alaska bauen – also Hilfe von außen holen. Wir können sicherlich auch mal Besuche in andere Länder unternehmen und schauen wie es woanders ist – also kleine Auszeiten nehmen –, aber letztendlich sind und bleiben wir in Alaska „gefangen“. Und stellen dann immer wieder fest, wie schön es in Alaska auch sein kann. Und dass wir mit den starken Höhen und Tiefen sehr umfassend das Leben erfahren – diese Erfahrung bleibt manch anderem verwehrt.

Einig waren wir uns vor allem, dass wir für nichts in der Welt unsere Kinder hergeben würden und immer für sie kämpfen – egal, was kommt.

Die Ehrenamtlichen waren sehr interessiert und wir sind in einen schönen Dialog gekommen. Ich denke, sie haben ein ganz gutes Bild bekommen. Schön, dass es diesen Verein und diese Möglichkeit gibt. Wer Interesse daran hat, kann sich gerne bei uns oder natürlich direkt im Verein melden.