Tag 593 – Ein Blick in die Vergangenheit – Julians 1. Tage im Leben

Heute gibt es Julian schon 593 Tage lang. Kein besonderer Tag – kein runder Tag. Dennoch einfach mal einen Tag zum Feiern, weil der kleine Mann schon so lange bei uns ist. Die Leser, die unseren (geschützten) Blog, den wir nach der Geburt von Julian geschrieben haben, kennen unsere Zeitrechnung von damals: Um selber den Überblick zu behalten, haben wir die Blogbeiträge mit der Anzahl der Lebenstage und – da Julian ja eine Frühgeburt war – mit dem Tag der Schwangerschaftswoche betitelt. Der Tag der Geburt hatte also den Titel: „Tag 0 – 29+3“ – Julian ist nach 29 Wochen und 3 Tagen Schwangerschaft auf die Welt gekommen – also ganze 74 Tage vor dem geplanten Entbindungstermin.

Philipp und ich waren damals auf einer Hochzeit in Hamburg – Bjarne bei den Großeltern. Ich bin früher von der Hochzeit ins Hotel gefahren und Philipp ist noch länger geblieben. Beim Insbettgehen hatte ich ein paar kurze Wehen, die mich bereits nachdenklich gestimmt haben. Ich habe schon während der Schwangerschaft Tagebuch geschrieben und habe am 06.10.13 um 0.30 Uhr mit den Worten geendet: „Zu meiner eigenen Beruhigung habe ich gerade nach einem Krankenhaus gegoogelt. Es ist eins mit Perinatalzentrum Level I (für Frühgeborene) in 2,9 km. Sehr gut! Ich habe aber das Gefühl, die Wehen ebben ab“. Und um 4 Uhr begann für uns eine neue Zeitrechnung.

Kurz nach dem Philipp von der Party wieder da war (und eigentlich gerade schlafen wollte… er hatte ja gefeiert…), ging es rund. Ich bekam richtig schmerzhafte Wehen und kurz danach platzte die Fruchtblase. Es ging also mit dem Krankenwagen (ich glaube, das Hotel, indem wir waren, ist das einzige, dass ich kenne, das einen so großen Aufzug hat, indem ein komplettes Krankenbett Platz findet…) zum besagten Perinatalzentrum. Das hat ein gefühlte Ewigkeit gedauert. Im Krankenhaus wurden die Wehen mit Wehenhemmern unterdrückt, die brachten allerdings mein Herz zum Rasen. Es ging noch ein paar Mal hin und her, ob er länger im Bauch bleiben kann oder nicht. Am Ende wurde aber entschieden, dass er zur Welt kommen soll:

Am 06. Oktober 2013 um 7.33 Uhr wird unser Sohn – viel zu früh – in der 30. Woche geboren. Ein Hamburger Jung!

Bis zu diesem Zeitpunkt sind wir davon ausgegangen, dass Julian „nur“ ein Frühgeburt ist. Es gab ja auch in der Schwangerschaft – mit Ausnahme von etwas vermehrten Fruchtwasser – nie einen Hinweis, dass es irgendwelche Probleme gibt. Philipp durfte nach einer Weile kurz zu ihm und kommt mit gemischten Nachrichten wieder: Der kleine Mann (wir haben zu diesem Zeitpunkt noch keinen Namen) ist stabil. Allerdings haben sie zum einen eine Gaumenspalte festgestellt und zum anderen sind seine Gelenke nicht in Ordnung. Die Arme und Beine sehen wohl richtig steif aus. Puh! Am späten Nachmittag darf ich auch (im Rollstuhl) zu ihm. Und so sitzen wir dann zusammen vor diesem winzigen Bündel Leben, das mit vielen Schläuchen verkabelt im Inkubator liegt.

Die nächsten Tage sind sehr verwirrend und neu und chaotisch.

Wir organisieren eine Menge: Familienzimmer im Krankenhaus für Philipp und mich, Bjarne weiter bei Oma und Opa, viele Fragen von Familien und Freunden beantworten (daher der Blog), den Arbeitgebern Bescheid geben (beide haben großartig reagiert!), Klamotten zum Anziehen für uns organisieren (wir wollten ja nur das Wochenende in Hamburg bleiben), usw.

Wir reden eine Menge:  mit den Schwestern, mit den Ärzten, mit dem Chefarzt, mit der Psychologin (das hat uns sehr geholfen), mit der Familie, mit Freunden und mit uns

Wir rätseln eine Menge: Die steifen Gelenke werfen Rätsel auf, die Instabilität vom kleinen Mann macht uns sehr nachdenklich (die Ärzte allerdings weniger), die zwingende Notwendigkeit der Beatmung (er atmet mal mit, mal nicht) macht uns zunehmend nervöser, die geringe Eigenaktivität stimmt alle nachdenklich, Philipp und der Chefarzt wühlen sich durch sämtliche Gendefekte, die sie auffinden können (mich hat das damals eher nervös gemacht)

Wir schwanken zwischen Angst und Hoffnung – die Ungewissheit macht uns manchmal ganz irre.

Wir suchen zwei Tage nach einem Namen und entscheiden uns schließlich für: Julian David.

Wir kuscheln, kuscheln, kuscheln: ab dem 3. Tag dürfen wir Julian auf den Bauch nehmen. Ab da liegen entweder Philipp oder ich mehrere Stunden am Tag in den Sesseln der Intensivstation neben dem Inkubator und kuscheln, was das Zeug hält. Eine der richtig schönen Momente – vor allem, wenn die Musiktherapeutin dazu kommt und wir gemeinsam Julian etwas vorsingen. Er hat es genossen und war dann ganz ruhig.

Ich sitze teilweise mit Sonnenbrille am Inkubator: Julians Billiwert ist zu hoch (also Neugeborenengelbsucht) und er erhält (gefühlt sehr lange) Fototherapie.

Wir bewundern die Krankenschwestern, die jeden Tag (und jede Nacht) aufs Neue die kleinen Leben retten (auch Julian hatte anfangs viele, viele Bradykardien (die Herzfrequenz rutscht ab) und musste dann schnell abgesaugt werden) und aufpäppeln und den Eltern Mut zureden.

Wir lernen im Rekordtempo: das Leben auf der Intensivstation, die Besonderheiten von Frühgeborenen, die Besonderheiten von Julian, unfassbar viele medizinische Fachbegriffe (unsere Blogleser sitzen teilweise mit geöffnetem Google neben unseren Beiträgen), eine Menge Symptome von muskelschwachen Krankheitsbildern usw.

Nach 7 Tagen werde ich entlassen, Philipp holt Bjarne ab und wir beziehen eine kleine Privatwohnung in Hamburg. So beginnt unsere Hamburgzeit richtig.

— Fortsetzung folgt —

Einzug der Gladiatoren

Heute haben wir Julians Hilfsmittel bekommen: 
Rehabuggy:

  

Therapiesitz: 

 Und ein Spezial-Kinderautositz:


Das Anpassen und Einstellen heute hat etwa eine Stunde gedauert und Julian hat es ganz prima mitgemacht. Wir hoffen, Julian gefallen seine neuen Hilfsmittel. Wir sind bisher ganz zufrieden und finden, dass sie auch ganz schick aussehen, oder? 

Besuch im Kinderhospiz

Letzten Donnerstag waren Philipp und ich im Kinderhospiz in Bethel (Bielefeld). Wir hatten dort einen Termin mit dem SAPV-Team, um uns als ambulanten Kinderintensivpflegedienst vorzustellen und außerdem wollten wir uns das Kinder- und Jugendhospiz anschauen.

Bei einem Hospiz denkt man ja unweigerlich direkt daran, dass Kinder dort zum sterben hingehen. Ein Kinderhospiz hat aber eine andere Ausrichtung als ein Erwachsenenhospiz. Grundsätzlich ist die Zielgruppe Kinder mit einer lebensverkürzenden Krankheit, aber die Mitarbeiter selber sagen: „Das hier ist ein Ort zum Leben“. Die Idee ist, dass man betroffenen Familien einen Ort zur Verfügung stellt, indem sie zur Ruhe kommen können. Und so kommen hier viele Familien hin, um gemeinsam Urlaub zu machen – auch lange bevor das Kind wirklich in die Lebensendphase kommt. Das besondere Kind wird vom Pflegepersonal betreut und die Eltern und Geschwister können die Zeit für sich nutzen. Die Räumlichkeiten sind wunderschön gemacht: überall helle, fröhliche Farben, viele Bilder, Spielzeug und auch das Personal sieht wenig „klinisch“ aus. Die Zimmer für die erkrankten Kinder sind im Erdgeschoss angesiedelt. Es gibt kein klassisches „Schwestern“zimmer, sondern eine große Theke mit einer kleinen Spiellandschaft davor, von dem ringsum die Zimmer abgehen. Gut durchdacht, da zum einen dadurch die Klinikatmosphäre verschwinden und zum anderen das Pflegepersonal schnell zu den kleinen Patienten kommen. Die Eltern können entweder mit im Zimmer schlafen oder sie nutzen die obere Etage mit den Familienzimmer. Diese sind auch sehr schön und haben Hotelatmosphäre, so dass hier wirklich Urlaubsstimmung aufkommen kann.

Um die besonderen Kinder wird sich natürlich pflegerisch und medizinisch wunderbar gekümmert. Aber darüber hinaus gibt es viele schöne Angebote: eine Musiktherapeutin kommt regelmäßig ins Haus, es gibt Erzieherinnen und Bewegungstherapeuten im Team, ein Snoozelraum steht zur Verfügung und ein besonders Highlight ist der kleine Pool. Eine große Badewanne, in der die ganze Familie Platz hat. Auch für die gesunden Kinder wird viel geboten. Gerne kennen lernen möchten wir den Erlebnispädagogen, der regelmäßig mit den Geschwisterkindern Ausflüge in den Wald macht und wohl richtig cool ist. Die Eltern können sich mit einer Kunsttherapeutin an ihrer künstlerischen Ader versuchen und so sind schon viele schöne Dinge entstanden. Ein Ritual ist zu Beginn des ersten Aufenthalts das Gestalten eines „Sonnenstrahles“. Dieser besteht aus einem Stück Holz, der gemeinsam angemalt und beklebt und mit dem Namen des Kindes versehen wird. Während des Aufenthalts dient er als Türschild und ansonsten hängt er im Eingangsbereich an einer großen Sonne mit allen anderen Sonnenstrahlen. Das sieht wirklich toll aus. Die Familien werden im Haus auch komplett verpflegt und haben verschiedene Gemeinschaftsräume zur Verfügung, so dass hier auch schon Freundschaften mit anderen Familien entstanden sind. Es gibt Familien, die sich jährlich wieder verabreden. Natürlich ist auch für eine psychologische und seelsorgerische Unterstützung gesorgt.

Die tatsächliche Lebensendphase kann – wenn man das möchte – natürlich auch hier komplett begleitet werden. Wenn ein Kind aktuell verstorben ist, brennt im Eingang ein Licht – so lange sich das Kind noch im Haus befindet. Es gibt einen extra Abschiedsraum, indem das Kind nachdem es verstorben aufgebettet werden kann. Wir können es nicht anders sagen, es ist wirklich schön gemacht. In dem lichtdurchfluteten Raum steht ein Bett, dass extra gekühlt wird und es besteht die Möglichkeit den Raum nach den eigenen Vorstellung zu gestalten. Eine Familie hat zum Beispiel mit Unmengen an Luftballons dekoriert. So traurig das alles auch ist, aber hier hat das Sterben wirklich einen Platz mitten im Leben. Auch nach dem Tod des Kindes wird die Familie mit psychologischer Betreuung, Trauergruppen und jeglicher Unterstützung, die man benötigt, versorgt. Es ist wirklich an alles gedacht.

Für uns haben wir beschlossen, dass wir persönlich nicht die Zielgruppe sind. Julian hat ja keine gesichert lebensverkürzende Krankheit – wir wissen es schlichtweg nicht und aktuell entwickelt er sich ja weiter. Aber falls wir doch mal in die Situation kommen, wissen wir, dass wir hier einen guten Platz haben.

Außerdem war es für uns wichtig, dass wir für weitere kleine Patienten unseres Pflegedienstes eine gute Anlaufstelle haben. Darum haben wir auch Kontakt zum SAPV-Team (Spezialisierte ambulante Palliativversorgung) aufgenommen. Dieses Team steht – parallel zu einem ambulanten Pflegedienst – zur Verfügung, um Familien mit einem lebensverkürzend erkrankten Kind in der häuslichen Umgebung zu unterstützen. Ein Team aus Ärzten, Kinderkrankenschwestern und auch psychologischer Unterstützung stehen dafür zur Verfügung.

Beide Institutionen sind übrigens auf Spenden angewiesen. Wer etwas gutes tun möchte, kann dieses gerne tun:
http://www.kinderhospiz-bethel.de
http://www.dwnh-bethel.de

Und hier gibt es noch einen Film über das Kinder- und Jugendhospiz: